Adam Sharr
Translation: Anna-Elisabeth Gülzow
School of Architecture, Planning & Landscape,
Newcastle University, Newcastle upon Tyne, UK
In der vorliegenden Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, auf welche Art und Weise es möglich ist, Vergangenheit durch Architektur zu vergegenwärtigen. Im Kontext von Berlin als Standort vieler bedeutender zeitgenössischer Gedenkstätten wird dabei besonders ein Bauprojekt eingehend untersucht: die im Jahr 2000 fertiggestellte und bislang wenig beachtete Kapelle der Versöhnung der Architekten Rudolf Reitermann und Peter Sassenroth. Nach Ansicht des Autors wurde bei diesem Gebäude ein ganz eigener, kritischer Ansatz im Umgang mit Erinnerung verfolgt. Sowohl Peter Eisenmanns Denkmal für die ermordeten Juden Europas als auch das Jüdische Museum von Daniel Libeskind sind Projekte, die als unabhängige, in sich geschlossene Welten funktionieren. Bei Arbeiten von Carlo Scarpa in Verona, Sverre Fehn in Hamar oder Peter Zumthor in Köln wurden dagegen die historischen Schichten eines Ortes in ihrer chronologischen Anordnung sichtbar gemacht. Im Gegensatz zu diesen beiden Herangehensweisen verkörpert die Kapelle der Versöhnung einen sedimentären Ansatz im Bezug auf das Vergangene. Dieses Ablagerungsprinzip basiert weder auf der gänzlichen Ablehnung von Geschehenem noch auf der Vorstellung, dass Geschichte geradlinig verläuft. Zwar mag die Architektur der Kapelle nicht jeden Besucher sofort auf emotionaler Ebene ansprechen, bei genauerem Hinsehen überzeugt das Gebäude jedoch durch Unaufdringlichkeit und Gedankenreichtum. Die Kapelle wird im folgenden Beitrag als kulturelles Artefakt interpretiert, und ihre Gestaltung und baulichen Details werden im Hinblick auf spezielle historische, materielle und intellektuelle Zusammenhänge untersucht.
Abbildung 1. Die Kapelle der Versöhnung auf dem Gebiet des einstigen „Todesstreifens“ zwischen den zwei Grenzzäunen der Berliner Mauer (Foto: Adam Sharr.)
Einleitung
Man könnte Berlin die Hauptstadt der Gedenkstätten nennen. FN1 Allerorten finden sich zahlreiche berühmte Zeichen der Erinnerung an die gewaltsame und geteilte Vergangenheit der Stadt, darunter das Denkmal für die ermordeten Juden Europas von Peter Eisenmann, Schinkels Neue Wache, die durch Heinrich Tessenow und eine Reihe weiterer Architekten umgestaltet wurde, und das Jüdische Museum von Daniel Libeskind. Das heutige Berliner Stadtgefüge ist jedoch nicht nur durch diese städtischen Sühnezeichen, sondern auch durch das systematische Ausradieren der DDR-Architektur geprägt: Beispielhaft dafür sei hier der umstrittene kürzliche Abriss des Palastes der Republik aus dem Jahr 1976 genannt, ein Entwurf der Architekten Grafunda und Swora.FN2 DDR-Gebäude werden durch neue Bauten abgelöst, die sich nicht selten einer architektonischen Sprache bedienen, die älter erscheint als die der Gebäude, welche sie ersetzen.FN3 Wie die bekannten Gedenkstätten dient auch diese Art der Neubebauung dazu, die jeweils von der Berliner Stadtregierung propagierten Hierarchien der Erinnerung ins Stadtgefüge einzuschreiben.
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird ein Gebäude untersucht, das in der umfangreichen Literatur über Berlin und seine Gedenkstätten wenig diskutiert wird, nach Meinung des Verfassers aber das kritischste unter den Mahnmalen darstellt, die seit Ende des 2. Weltkrieges in der Stadt entstanden sind und sich sichtbar mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Die Kapelle der Versöhnung befindet sich im Stadtteil Mitte in der Nähe des alten Nordbahnhofs – im ehemaligen „Niemandsland“ zwischen den zwei Grenzzäunen der Berliner Mauer (Abb. 1). Der im Jahr 2000 eingeweihte Sakralbau steht dort als Ersatz für eine Kirche, die 1985 auf spektakuläre Art und Weise durch die DDR-Grenzsoldaten gesprengt wurde, da sie deren Schusslinien blockierte. Die Kapelle wurde über den Fundamenten des Vorgängerbaus errichtet, unterscheidet sich von diesem jedoch deutlich in Grundriss, Schnitt und architektonischem Ausdruck.
Abbildung 2. Die Versöhnungskirche im Jahr 1961, durch die Berliner Mauer von der Außenwelt abgeriegelt
(Foto: http://www.kapelleversoehnung. de/bin/englisch/history/history.php [Stand 12.04.10]).
Zwar mag die Architektur der Kapelle auf den ersten Blick weniger eindrucksvoll erscheinen als die manch anderer Berliner Gedenkstätte, bei genauerem Hinsehen besticht das Gebäude jedoch durch Unaufdringlichkeit und Gedankenreichtum. Im Folgenden sollen die Kapelle und ihre baulichen Details „gelesen“ werden, um den Symbolgehalt des Gebäudes zu entschlüsseln. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Modalitäten des Erinnerns, die bei diesem Projekt strategisch zur Anwendung kommen.FN4 Dabei geht es nicht darum, den Intentionen der 60 Architekten nachzuspüren. Vielmehr sollen vor dem Hintergrund der historischen, physischen und intellektuellen Rahmenbedingungen des Projektes die Ideen untersucht werden, die durch Grundriss und Gestalt des Bauwerks zum Ausdruck gebracht werden.
Die Kapelle der Versöhnung
Die erste Kirche auf dem Grundstück der Versöhnungskapelle – ein vielfarbiger, neogotischer Ziegelbau nach einem Entwurf des Architekten Gotthilf Ludwig Möckel – wurde 1895 fertiggestellt.FN5 Das Gotteshaus wurde für eine Gemeinde von Einwanderern errichtet, die in diesem Teil der Stadt nach Arbeit suchten, und erhielt den Namen Versöhnungskirche, der die sozialen Spannungen jener Zeit widerspiegelte. Während der Bombardierung der Stadt durch die Alliierten im Jahr 1943 wurde die Kirche beschädigt, und 1950 in nicht weniger bewegten Zeiten wieder eröffnet. Die Bernauer Straße, an
Abbildung 3. Eine Schautafel neben der Kapelle zeigt ein Filmbild aus einer Videoaufnahme von der Sprengung des Kirchturms. (Foto: Adam Sharr.)
der sich der Eingang zur Versöhnungskirche befand, bildete nach Ende des Krieges 1945 einen Teil der Grenze zwischen dem französischen und dem russischen Sektor Berlins. Als sich die Spannungen des Kalten Krieges verschärften und es im August 1961 zur Teilung der Stadt entlang der Sektorengrenzen kam, befand sich die Kirche gleichsam im Niemandsland zwischen den zwei Grenzzäunen der Mauer (Abb. 2). Die umliegenden Gebäude wurden abgetragen, die Kirche aber wurde versiegelt und überdauerte so verlassen und jeglichen Kontextes beraubt mehr als 20 Jahre – bis zu ihrem Abriss im Januar 1985. Die Sprengung des Kirchturms kam für den Westen überraschend und die Filmaufnahmen des Ereignisses gingen um die ganze Welt (Abb. 3). Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl bezeichnete die Sprengung als ein Symbol für die noch immer existierende Kluft zwischen Ost und West.FN6
Nach dem sowohl buchstäblichen als auch symbolischen Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 entdeckte die Gemeinde, dass die Fundamente ihrer Kirche noch intakt waren, und es tauchten Überreste des verlorenen Gotteshauses auf, darunter das Abendmahlsgerät, der Taufstein, die Altarbibel, das beschädigte Retabel und die Glocken.FN7 Ein Wettbewerb für einen Nachfolgerbau wurde ausgeschrieben – eine kleine, moderne Kapelle sollte den Geist der Versöhnung weitertragen, in dem die erste Kirche einst gegründet worden war. Das Gebäude sollte sowohl als Gemeindekirche für die wiedervereinigte Gemeinde nutzbar sein als auch an all das erinnern, wofür die alte Kirche stand und schließlich fiel. FN8 Der Begriff Versöhnung vereint hier mindestens zwei Bedeutungen: Er bezieht sich zum einen auf die Zusammenführung einer getrennten Gemeinde, zum anderen auf die Wiedervereinigung einer geteilten Stadt und zweier deutscher Staaten.
Die jungen Berliner Architekten Rudolf Reitermann und Peter Sassenroth konnten den Wettbewerb für sich entscheiden und gingen eigens für das Projekt eine Partnerschaft ein. Ihr Gebäude befindet sich über einem Teil der noch erhaltenen Fundamente (Abb. 4) und ist im Grundriss durch zwei Ellipsen gegliedert, eine in der anderen ruhend wie ein Kind im Mutterleib
(Abb. 5).
Der Altarraum, die innere Ellipse, ist von massiven Wänden umschlossen und
Abbildung 4.
Die Axonometrie der Architekten verdeutlicht die Ausrichtung der Kapelle im Verhältnis zum Grundriss der einstigen Kirche. (mit freundlicher Genehmigung von Reitermann + Sassenroth Architekten).
wird nur durch ein Oberlicht belichtet. Die äußere Ellipse ist gegen die innere verdreht angeordnet. So entsteht ein Schwellenraum zwischen Eingang und Altarraum und der Eintritt in den eigentlichen Sakralraum wird verzögert (Abb. 6). Der Zwischenraum ist luftig und offen. Seitlich bilden eng stehende vertikale Holzlamellen die Grenze zum dahinter liegenden Gelände (Fig. 7). Der Raum mutet leicht provisorisch an, ist weder ganz innen noch ganz außen, seine Funktion nicht klar definiert: Begegnungen an diesem Ort werden immer flüchtiger Natur sein. Unklar ob Wandel- Kreuz- oder Chorumgang ist er all dies gleichermaßen und doch keines davon.
Wie schon der Schwellenraum ist auch der innen liegende Altarraum vielschichtiger, als es seine Größe vermuten lässt. Man erreicht ihn durch ein kastenförmiges Metallportal, eine Art Windfang, der die massive Wand des Raumes durchstößt und so schon beim Betreten des Wandelgangs sichtbar ist (Abb. 8). Beim Durchqueren dieses Windfangs wird der Blick des Besuchers auf scheinbar zwei Altäre gelenkt – den neuen Gottestisch neben dem Andenken des Alten: Der neue Altar – ein monolithischer Kubus – wurde im Winkel von 45° zum Eingang platziert. Das gerettete Retabel der alten Kirche ist im rechten Winkel zum Eingangsportal in
Abbildung 5. Grundriss (mit freundlicher Genehmigung von Reitermann + Sassenroth Architekten).
einer Wandnische daneben aufgehängt (Abb. 9). Kubus und Retabel zeugen von zwei Achsen, die das asymmetrische Oval queren.FN9 Sorgfältig wurde darauf geachtet, den beiden Linien gleichwertige Präsenz im Gebäude zukommen zu lassen: Die durch die Nische implizierte Dominanz der einen Achse wird durch parallel zum Altarkubus angeordnete Stuhlreihen, die Position des quadratischen Oberlichtes und die Ausrichtung der Orgelbühne gebrochen, die als Mezzanin im hinteren Kirchraum ausgebildet ist. Betrachtet man den Grundriss, so erkennt man, dass das Retabel und die dazugehörige Nische direkt in der Achse der ersten Kirche platziert wurden. Heute hängt das Retabel allerdings dort, wo sich früher der hintere Teil des Kirchenschiffes befand. Verglaste Öffnungen im Boden geben den Blick auf Teile der alten Fundamente und Spuren der Bombardierung von 1943 frei.
In einer von der Gemeinde herausgegebenen Informationsbroschüre ist zu lesen, dass die Wahl des Baumaterials während der Entwurfsphase zu heftigen Diskussionen zwischen Bauherrenschaft und Architekten führte.FN10 Die Architekten schlugen vor, die massive Wand des Altarraumes in Beton auszuführen, für die den Wandelgang begrenzenden Lamellen war Glas vorgesehen. Die Gemeinde und ihre Vertreter empfanden diese Materialien jedoch als zu streng und militaristisch, zu ähnlich denen der Mauer und der Wachtürme, die einst diesen Ort geteilt hatten. Nach langwierigen Diskussionen entschied man sich, Glas durch Holz und Beton durch Stampflehm – einen Verbundwerkstoff aus gestampftem Lehm, Schotter und Flachsfasern – zu ersetzen. Diese späten Änderungen ließen das Projekt nur noch vielschichtiger und subtiler werden.
Vier Ebenen der An- und Abwesenheit
Die Architekten der meisten bekannten zeitgenössischen Gedenkstätten Berlins bedienen sich eines Wechselspiels der Eindrücke, um Bedeutung zu transportieren: Sie verbergen und enthüllen, verstecken und legen frei.FN11 Gezielt inszenieren sie das An- und das Abwesende. Vorhandene Bausubstanz wird dabei als Metapher genutzt, um bildhaft sichtbar zu machen, was einst existierte. Einer solchen Vorgehensweise liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Bauten der Vergangenheit jenen, welche heute an ihrer Stelle stehen, Bedeutung verleihen. Auf phänomenologischer Ebene stützt sich diese Strategie zentral auf die Erlebbarkeit des konkret Physischen: auf die Erfahrbarkeit dessen, was physisch offensichtlich und unverhandelbar existiert, und so auch Erinnerungen an Menschen und Dinge wach ruft, die nicht mehr existieren. Am Beispiel von Eisenmanns Holocaust-Denkmal (ein Entwurf, der ursprünglich in Zusammenarbeit mit dem Künstler Richard Serra entstand) lässt sich der beschriebene Denkansatz nachvollziehen (Abb. 10). Das Mahnmal besteht aus einem Raster von 2711 Betonquadern, Stelen genannt, zwischen denen schmale Pfade verlaufen. Durch die unterschiedlichen Höhen der Stelen taucht der Besucher mancherorts vollständig in das Monument ein und kann an anderen Stellen – nun selbst gut sichtbar für andere Besucher – den Blick weit über das Stelenfeld schweifen lassen. Als Teile eines seltsam ungeordneten Systems erinnern die Betonquader gleichermaßen an Grabmäler, militärische Anlagen und prähistorische Bauwerke. Das Fehlen jeglicher Beschilderung und eindeutiger kuratorischer Hilfestellungen verleiht den rechtwinklig geschnittenen Stelen eine geheimnisvolle Ausdruckskraft. Wie rätselhafte Gefährten, gemeinsam Trauernde, stehen sie versunken in beharrlichem Schweigen. Dabei reflektiert ihre dichte Betonoberfläche den Klang der Schritte der Besucher, die das Labyrinth durchwandern. Scheinbar entschlossen, für niemanden den Weg freizugeben, verfügt jeder einzelne Quader über eine spürbare Präsenz und vermag dadurch, die Erinnerung an das Vergangene wach zu rufen: an Menschen, Lebenswege und Gebäude, die einst Teil dieser Welt waren. Das Schweigen der Steine drückt jedoch auch eine Art von Abwesenheit aus, die zu vielfältigen Interpretationen einlädt. In ähnlicher Weise ist auch Daniel Libeskinds Entwurf des Jüdischen Museums vom Bestreben inspiriert, das Abwesende sichtbar zu machen und mit dem
Abbildung 6. Der Eingang der Kapelle. (Foto: Adam Sharr.) Abbildung 7. Der vom äußeren Oval begrenzte Außenraum ist gleichermaßen Wandel-, Kreuz- und Chorumgang. (Foto: Adam Sharr.)
Vorhandenen in einen Dialog treten zu lassen. Davon zeugen sowohl die Hohlräume, an denen der Grundriss des Gebäudes ausgerichtet ist, als auch ein gegen eine Wand führender Treppenlauf und der kalte und beklemmende Holocaust-Turm. Ebenso verbirgt und enthüllt auch die Kapelle der Versöhnung, wobei sie die Ablagerungen verschiedener Ebenen des An- und des Abwesenden in sich vereint. Vier dieser Ebenen sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.
Im Mittelpunkt der ersten Ebene stehen Axialität und Symmetrie. Eine einzige Altar und Eingang verbindende Zentralachse – das grundlegende Organisationsprinzip eines traditionellen kreuzförmigen Kirchengrundrisses – ist augenscheinlich nicht vorhanden. Stattdessen wurde die Hauptachse gebrochen und vervielfacht. Beim Betreten des Wandelgangs ist der Eingang des Altarraums nicht sofort auszumachen und nach dem Eintritt in den Innenraum bemerkt der Besucher dort gleich zwei miteinander konkurrierende Achsen, von denen jedoch keine dominiert. Traditionell bildet eine einzige Achse das symmetrische Zentrum eines Kirchenraumes. Obwohl das Oval potenziell eine symmetrische Grundform darstellt, entzieht sich der Entwurf der Kapelle letztendlich dem Prinzip der Symmetrie. Weder das äußere noch das innere Oval sind tatsächlich symmetrisch. Auch beim Durchbrechen der Grundformen, um Nischen und Eingänge zu schaffen, wurden Symmetrie und klare Axialbeziehungen vermieden. Das Fehlen einer einzigen Hauptachse ist für den Besucher deutlich spürbar und wirkt leicht desorientierend.
Es ist offensichtlich, dass eine mögliche Symmetrie hier bewusst nicht realisiert wurde. Einerseits dient ihr Fehlen dazu, den Verlust und die einstige Präsenz des konventionell organisierten Vorgängerbaus der Kapelle zu betonen. Andererseits wird durch die Abwesenheit der traditionellen Ordnung eindeutig auch Kritik an der architektonischen Tradition geübt, in der die alte Kirche stand. Der Einwand, die Singularität des Holocaust sei im Kontext der Nachkriegsgeschichte fragwürdig geworden, ist nicht neu: Es ist möglich, den Völkermord an den Juden sowie die mechanisierte Kriegsführung der Weltkriege und des Kalten Krieges als Konsequenz der Fortschrittsgläubigkeit der europäischen Aufklärung zu betrachten; als das Aufgeben der Suche nach dem einheitlich Wahren, die den klassischen Modernismus prägte.12 Vor diesem Hintergrund erscheinen Komplexität und Vielfalt angemessener. Die formalen Doppeldeutigkeiten der Kapelle sind bescheidener Natur – ihre Kraft liegt im Subtilen. Das Potenzial einer einzigen dominanten Achse als formalem Element wird nicht in Frage gestellt (tatsächlich ist die eine Achse hier gerade durch ihr Fehlen präsent), letztere wird jedoch eindeutig der Vergangenheit zugeordnet.
Wenden wir uns als Zweites dem seltsam geheimnisvoll anmutenden Chorumgang zu. Der Wandelgang steht scheinbar stellvertretend für die mit Säulen und Arkaden versehenen Seitenschiffe einer konventionellen Kirche. Ganz anders als dort bieten sich hier jedoch keine Einblicke in das Innere des Hauptschiffes, da Altarraum und Umgang durch eine dicke Wand voneinander getrennt sind. Stattdessen kann der Besucher durch in den Boden eingelassene Glasfelder die alten Fundamente betrachten (Abb. 11) und zwischen den Holzlamellen hindurch auf die Straße zurückblicken (Abb. 12). Der Umgang lässt sich jedoch auch als Kreuzgang deuten. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht dabei allerdings kein innen liegender Garten, sondern das außen angrenzende Brachland, das einst als tödlicher Zwischenraum von zwei Mauern begrenzt wurde. Den Schwankungen des Wetters und dem Verkehrslärm der Bernauer Straße ausgesetzt, lädt der Wandelgang kaum zum Verweilen ein. Seine etwas unbehagliche Form scheint eher zum Durchschreiten als zum Stehen oder Sitzen geeignet. Und so lenkt auch die Gegenwärtigkeit dieses Raumes die Aufmerksamkeit auf das Abwesende: auf die gesprengte Kirche und ihre architektonische Tradition, auf das Fehlen des angenehm Vertrauten und auf die einst so politisch brisante Brachfläche des Mauerstreifens. Zu Gunsten einer Orientierung nach außen wurde die einfache Möglichkeit eines rein introvertierten Baukörpers verworfen. Stattdessen steht die neue Kapelle ringsum mit ihrer Umgebung in Kontakt. Die Introspektion des Altarraums wird durch diese Extrovertiertheit des Wandelgangs noch verstärkt. Wie schon das Prinzip der zentralen Achse werden bei der Gestaltung dieses Ortes auch die architektonischen Konventionen eines Seitenschiffes nicht abgelehnt, sondern vielmehr neu interpretiert, um etwas gleichermaßen Vertrautes und doch erstaunlich Neues zu schaffen.
Die dritte erkennbare Ebene von An- und Abwesenheit findet ihren Ausdruck sowohl im neuen Altar der Kapelle als auch im Fehlen des Altars der alten Kirche, angedeutet durch das Retabel in der Wandnische. Der Altar – zweifellos das rituelle Zentrum eines konventionell organisierten Kirchenbaus – wird im vorliegenden Fall zuerst verdoppelt und schließlich subtrahiert. Beim Betreten des inneren Kirchenraumes fällt der Blick des Besuchers zuerst auf den massiven Altarkubus; dennoch wird dieser als versteckt und indirekt empfunden. Er ruht auf einer polierten Steinplatte, die bündig mit dem Kapellenboden abschließt – ein Altarpodium gibt es nicht. Der Mittelgang der Kirche ist an dieser Steinplatte ausgerichtet, erhält seine Form jedoch ausschließlich durch die Anordnung des Gestühls. Die platonische Geometrie und das Fehlen jeglichen Ornaments verleihen dem bewusst minimal gehaltenen Quader eine fast prähistorische Qualität. So besitzt der Altar eine entschiedene räumliche Präsenz, die jedoch durch seine beinahe provisorisch anmutende Platzierung im Kirchenraum geschwächt wird. Abgesehen von einer Ecke des Oberlichtes, die im Winkel von 45 Grad auf die vertikale Verlängerung des Mittelpunkts der vorderen Kante des Altartisches trifft, gibt es untypisch wenige ergänzende architektonische Mittel, die dazu beitragen, den Kubus an seinem Standort zu verankern (Abb. 13).
Der Stellenwert des neuen Altars wird durch seinen stillen Sekundanten in doppelter Weise untergraben. Das Retabel in der rechts vom Altarkubus angeordneten Wandnische stellt den einzigen Dekorationsgegenstand des sonst schmucklosen Kirchenraumes dar und verfügt über eine faszinierende Präsenz. Unterhalb des Retabels, an der Stelle wo einst ein Geistlicher vor einem Tabernakel gestanden haben mag, lässt eine in den Boden eingelassene Glasplatte alte Ziegelfundamente erkennen. Die
Abbildung 9. Der Altarraum mit dem Altarkubus auf der linken und dem geretteten Retabel in seiner Nische auf der rechten Seite. (Foto: Adam Sharr.)
offensichtliche Herkunft des Retabels als Altarrückwand, seine symmetrische Platzierung in der Wandnische und die Öffnung zu den Überresten der alten Kirche tragen dazu bei, die Abwesenheit des zweiten Altars noch spürbarer zu machen. Auf seltsame Weise wird die zentrale Gegenwart des für die Zeremonien des Kirchenalltags genutzten Altarkubus durch seinen stummen Gefährten fast aufgehoben. Im Fehlen eines Altars vor der Wandnische in Kombination mit der aufwendig gearbeiteten Reliquie des geretteten Retabels manifestiert sich dagegen sehr deutlich die einstige Versöhnungskirche. Das historische Artefakt ist hier weniger kuratiertes Objekt als vielmehr Spurenrest des Vergangenen. Seine klare Funktion besteht darin, Abwesendes zu vergegenwärtigen.
Als Viertes berichten auch die Stampflehmmauern eindringlich von der verlorenen Kirche und ihrer Auferstehung. Beim Stampflehmbau wird ein Gemisch aus Lehm, Zuschlägen und Pflanzenfasern unter Einwirkung von hohem Druck in einer Schalung verdichtet. Die Wand, die dabei Schicht um Schicht aus Schüttungen des nachhaltigen Baustoffes entsteht, wirkt zwar stabil, ist jedoch recht empfindlich. Im trockenen Zustand neigt ihre Oberfläche dazu abzubröckeln.
Abbildung 10. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas; Architekt Peter Eisenmann. (Foto: Adam Sharr.)
Ist sie dem Wetter schutzlos ausgesetzt, weist sie bald starke Verwitterungserscheinungen auf. Ein angemessener Wetterschutz ist daher unerlässlich. Da Stampflehm zudem ungeeignet ist, neben seinem Eigengewicht große statische Lasten abzutragen, sind Öffnungen in Lehmwänden nahezu unmöglich zu realisieren. Bei der Kapelle der Versöhnung dienen der von Holzlamellen begrenzte Wandelgang und der Windfang des Altarraums daher dazu, die Lehmwand des
Abbildung 11. Eine der Öffnungen im Boden lässt Teile der Fundamente der ursprünglichen Kirche erkennen. (Foto: Adam Sharr.)
Innenraumes sowohl gegen Wettereinflüsse abzuschirmen als auch mit einer Öffnung zu versehen. Durch das Vorhandensein dieser Elemente bleibt die Wand erhalten, ist geschützt und der Innenraum nutzbar: Nur durch Windfang und Wandelgang hat der Altarraum Bestand.
Vor allem fasziniert die Stampflehmwand jedoch aufgrund des verwendeten Zuschlags. Vor Ort gesiebt enthält dieser Fragmente von Mauerwerk, Steinen und Fliesen der ursprünglichen Kirche (Abb. 14). Bei genauer Untersuchung der Lehmwand lassen sich die verschiedenen
Abbildung 12. Das Raster der Holzlamellen erlaubt Durchblicke vom Wandelgang auf die Straße. (Foto: Adam Sharr.)
Abbildung 13. Das Oberlicht des Altarraumes. (Foto: Adam Sharr.)
Farben des Mauerwerks der Versöhnungskirche erkennen und man kann Teile glasierter Fliesen entdecken, die einst die alte Kirche schmückten. Millionen kleiner Ablagerungen der Baustoffe der gesprengten Kirche sind so im Lehm eingeschlossen. Zusammengefügt zu einem neuen Grundstoff sind diese geschichteten Fragmente ein ausdrucksstarkes Symbol für die Gesamtheit der abwesenden Kirche und die in ihr verkörperten weltanschaulichen Gewissheiten einer vergangenen Epoche. Mit Hilfe des Stampflehms werden die unzähligen Ablagerungen der Erinnerung buchstäblich zu gebauter Form aufgeschichtet. Jedes Fragment, jedes im Zuschlag enthaltene Element, besitzt seine ganz eigene, geheimnisvolle Präsenz. Woher stammt es? Zu welchem der vielen Steine, die nun unsichtbar in der Materie der Lehmwand verborgen sind, mag es gehört haben?
In den Schichten des Baukörpers der Kapelle sind die vier beschriebenen Ebenen von An- und Abwesenheit miteinander verknüpft. Aufbauend auf der Idee der Sedimentation soll im Folgenden erläutert werden, warum bei dieser Methode – verglichen mit anderen Versuchen von Erinnerungsarchitektur – ein ganz eigener Ansatz zum Erwecken von Erinnerungen verfolgt wird.
Archäologie anders
Sowohl Eisenmanns Denkmal als auch Libeskinds Jüdisches Museum sind Projekte sehr spezieller Art. Beiden liegen ganz eigene gedankliche Systeme und Schemata zu Grunde. Beide stehen eher allein, introvertiert, suchen nicht, mit ihrer Umgebung in Kontakt zu treten. Das konzeptionelle Bestreben dieser Projekte liegt zugleich in der Kontextualisierung als auch der Dekontextualisierung ihrer baulichen Substanz, was zum Teil sicherlich auf das spezifische Grauen des Holocaust zurückzuführen ist, an den sie auf unterschiedliche Art und Weise erinnern. Doch mehr als Fragmente apokalyptischer Welten sind sie Erfahrungen, die die Kräfte des Ortes mindern und den Besucher für gewisse Zeit ihren jeweiligen Standort in der Stadt vergessen lassen.FN13
Abbildung 14. Die Stampflehmwand enthält Fragmente von Mauerwerk, Steinen und Fliesen der ursprünglichen Kirche. (Foto: Adam Sharr.)
Dieser Ansatz steht im bewussten Gegensatz zu einer anderen, weiter verbreiteten, Methode des Sichtbarmachens von Erinnerung durch gebaute Form, die in den kanonischen Architekturprojekten der Nachkriegszeit wiederholt zur Anwendung kommt.FN14 Bei Peter Zumthors jüngster Ergänzung einer Kirchenruine als Teil des Diözesanmuseums Kolumba in Köln wurde die neue Bausubstanz dem historischen Bestand so hinzugefügt, dass die Schichten der Geschichte dabei in ihrer chronologischen Anordnung erkennbar wurden. Ein ähnlicher Ansatz wurde auch bei Sverre Fehns Hamar Museum und Carlo Scarpas berühmt opportunistischer historischer Rekonstruktion des Castelvecchio in Verona verfolgt. Diese architektonische Strategie ist offensichtlich archäologischer Natur. Jede neue Schicht erwächst aus der vorhergehenden. Dabei wird jede Ebene sichtbar gemacht, um so eine Reihe von Ereignissen als lineare Geschichte zu präsentieren – unabhängig davon, ob diese Geschichte nachträglich geordnet wurde oder sogar in Teilen fingiert ist, wie beispielsweise im Fall von Scarpas Castelvecchio. Bei dieser Vorgehensweise dient das Gebäude der Realisierung eines teleologischen Archäologiebegriffes: Jede neue Schicht wird klar als Nachfolger der vorhergehenden ausgewiesen.
Nach Ansicht des Autors liegt der Kapelle der Versöhnung dagegen nicht ein teleologisches, sondern ein sedimentäres Verständnis von Archäologie zu Grunde. Denn die Schichten von An- und Abwesenheit, mit denen dort Erinnerungen geweckt werden, sind im Baukörper der Kapelle deutlich verdichteter und ganzheitlicher miteinander verbunden, als dies durch das explizite Aufschichten von Bausubstanz möglich wäre. Zwar gibt es Momente, an denen sich das historische Nacheinander der Bausubstanz vor Ort ablesen lässt, wie z. B. die Glaselemente im Boden, die den Blick auf die Überreste darunter freigeben, im Wesentlichen kam beim Design der Kapelle jedoch ein vielschichtigerer Ansatz zum Tragen.
In Walter Benjamins Betrachtungen zum Archäologiebegriff in seinem Buch „Berliner Chronik“ heißt es:
Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. [. . .] Denn Sachverhalte sind nur Lagerungen, Schichten, die erst der sorgsamsten Durchforschung das ausliefern, was die wahren Werte, die im Erdinnern stecken, ausmacht: die Bilder, die aus allen früheren Zusammenhängen losgebrochen als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht – wie Trümmer oder Torsi in der Galerie des Sammlers – stehen. Und gewiß bedarf es, Grabungen mit Erfolg zu unternehmen, eines Plans. Doch ebenso ist unerläßlich der behutsame, tastende Spatenstich ins dunkle Erdreich und der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde und nicht auch dies dunkle Glück von Ort und Stelle des Findens selbst in seiner Niederschrift bewahrt. Das vergebliche Suchen gehört dazu so gut wie das glückliche und daher muß die Erinnerung nicht erzählend, noch viel weniger berichtend vorgehn sondern im strengsten Sinne episch und rhapsodisch an immer andern Stellen ihren Spatenstich versuchen, in immer tieferen Schichten an den alten forschend.FN15
Benjamin unterscheidet zwischen den Artefakten selbst und den Vorstellungen, die wir nachträglich mit ihnen verbinden, da wir sie als Talismane der Erkenntnis betrachten, deren Autorität sich aus der ihnen entgegengebrachten Verehrung ableitet. Der Wert archäologischer Fundstücke liegt nach dieser Auffassung ebenso sehr im Mysterium der Dinge selbst wie in den Geschichten begründet, die wir im Nachhinein auf sie projizieren. Letztendlich aber sind die Artefakte, egal ob Erinnerungsstücke oder Träger von Geschichten, nur so wichtig wie die Suche nach Ihnen. Benjamin erinnert an die Spannung einer Verfolgungsjagd, die Aufregung des Findens oder Verlierens. Er impliziert, dass jeder Mensch sich stets im Zentrum seiner eigenen archäologischen Grabung befindet, wobei der Vorgang der Suche wichtiger ist als das Ziel. Das Streben wird dann sinnfällig, wenn Menschen im Stande sind, die entdeckten Fundstücke (oder ihr Fehlen) zu beurteilen, wenn sie es verstehen, die Kostbarkeit der eigenen Erinnerungen im Erleben vorhandener oder erdachter materieller Relikte zu verankern.
Im Vorhandensein solcher Objekte – ganz gleich, ob sie entdeckt werden oder nicht – drückt sich gleichzeitig gegenwärtige Abwesenheit aus: Sie bieten jedem Einzelnen eine Projektionsfläche für persönliche Erinnerungen. Sie besitzen das Potenzial, uns in Vorstellungen über das eigene Schicksal schwelgen zu lassen, und erlauben es, die eigenen Erinnerungen an ihnen zu messen und sich selbst im Bezug auf das Vergangene zu verorten. Laut Benjamin ist es Menschen dank dieser individuellen Archäologie und ihrer realen oder imaginären Artefakte möglich, auf der Grundlage persönlicher Erinnerungen und gemeinsamer Geschichten im Laufe der Zeit neue und eigene Kulturen zu etablieren.
In Bezug auf die Kapelle der Versöhnung kann dieser Vorgang der kulturellen Abgrenzung als Sedimentationsprozess beschrieben werden. Für die Stampflehmwand der Kapelle wird Lehmerde als Baustoff genutzt, in neue Form gebracht und mit gesammelten Artefakten angereichert. Bei diesen Artefakten handelt es sich jedoch nicht um kuratierte Objekte, sondern um undefinierte Fundstücke, eher um herausgesiebte Ablagerungen als um sorgfältig angeordnete Exponate. Manche sind sichtbar, andere bleiben – in der Tiefe des Stampflehms verschüttet – dem Auge des Betrachters verborgen. Die Lehmwand wird in Schichten errichtet und steht dennoch für die Ablehnung eines einfachen und sukzessiven Aufschichtens von Geschichte. Sie erregt Aufmerksamkeit, weckt Neugierde und lädt zur Projektion persönlicher Erinnerungen und Vorstellungen ein. Dabei hält sie jedoch keine direkten Antworten auf Fragen zur Geschichte des Ortes, des Gebäudes oder der Menschen bereit, die hier an Zerstörung und Wiederaufbau beteiligt waren.
Die Wand steht symbolisch für die architektonische Strategie, die der Kapelle als Ganzes zu Grunde liegt. Sie steht als Metapher dafür, wie im Baukörper der Kapelle Elemente von An- und Abwesenheit in einem Sedimentationsprozess miteinander verknüpft werden. Gemeint ist hier nicht die Sedimentation im geologischen Sinne, sondern eher der Prozess in einer Zentrifuge – das Schleudern und Absetzen von Materie. In der Vervielfachung der Achse und der Ablehnung von Symmetrie, in der Verdopplung und Subtraktion der Altäre und in der Öffnung des neu konstituierten Seitenschiffes nach außen anstatt nach innen zeigt sich weder ein klares Negieren noch die eindeutige Akzeptanz architektonischer Traditionen und aller damit verbundenen Konnotationen. Vielmehr stellt der Baukörper der Kapelle eine Art Träger von Versatzstücken der Erinnerung dar. Anhand des Wandelgangs, der Achsen und der Altäre werden Bautraditionen in ihre Einzelteile aufgelöst, in einem gemeinsamen Sedimentationsprozess neu gemischt und wieder zusammengefügt. Sie bleiben erhalten, zwar erkennbar, jedoch verändert und zu neuen Sedimenten kombiniert. Die Reihenfolge dieser Sedimente ist ungeordnet: Sie folgt nicht dem teleologischen Prinzip des Aufschichtens, sondern stellt vielmehr eine mehrdeutige Rekonstitution ohne Gewissheiten dar.FN16 Durch eine solche Neuordnung können Besucher dazu angehalten werden, sich als Archäologen im Sinne Benjamins zu versuchen: Sie erlaubt die instinktive oder bewusste Projektion persönlicher Erinnerungen auf eindeutig anwesende oder abwesende Gebäudeteile und besitzt das Potenzial, Menschen dazu aufzufordern, auch ihre Erinnerungen neu zu ordnen.
Architektur als formaler Ausdruck von Erinnerung
Ein solch sedimentärer Archäologiebegriff birgt faszinierende Möglichkeiten für den Ausdruck von Erinnerung durch architektonische Form. Die Kapelle basiert auf einem weniger internalisierten Konzept als Eisenmanns Denkmal oder Libeskinds Museum, Projekten, die den Anspruch verfolgen, unabhängige, in sich geschlossene Welten zu schaffen. Andreas Huyssen stellt eine solche Introspektion in seinem Buch Present Pasts kritisch in Frage:
Wenn die 1980er Jahre das Jahrzehnt des unbeschwerten postmodernen Pluralismus waren, so schienen die 1990er als Schattenseite des neoliberalen Triumphalismus verfolgt vom Trauma [. . .] Das allgemein verbreitete Interesse an seelischen Schockzuständen ist sicher darauf zurückzuführen, dass das Trauma als psychisches Phänomen an der Schwelle zwischen Erinnern und Vergessen angesiedelt ist, zwischen Sehen und Nicht-Sehen, Transparenz und Okklusion, Erlebnis und fehlendem Erlebnis aufgrund von Wiederholung [. . .] Gedächtnis mit Trauma gleichzusetzen, fast ausschließlich gekennzeichnet durch Schmerz, Leid und Verlust, würde unser Verständnis des Begriffes meiner Ansicht nach jedoch ungebührlich einschränken. Einem solchen Gedächtnisbegriff zufolge wären wir als Menschen handlungsunfähig und so im Kreislauf zwanghafter Wiederholung gefangen. Gedächtnis, ob individuell, generationsübergreifend, politisch oder öffentlich ist stets mehr als nur das Gefängnis der Vergangenheit.FN17
Laut Huyssen stellen Mahnmale, die Traumata heraufbeschwören, eine entscheidende Form des Gedenkens dar. Er unterstellt jedoch, dass Gedenkstätten dieser Art nur selten Versöhnung befördern. Die Kapelle zeigt einen fruchtbaren Mittelweg zwischen einem solchen Ansatz und einem eher teleologischen Verständnis von Archäologie auf, der allen Dingen das gleiche Gewicht zukommen lässt und durch eine solche Gleichwertigkeit dazu beitragen kann, eine durch Trauma ausgelöste Notwendigkeit zur Neubewertung der Vergangenheit und ihrer Prioritäten zu vermeiden. Der formale Ausdruck der Kapelle suggeriert einen unverkennbaren Standpunkt: Die Teilungen des Krieges und des Kalten Krieges beinhalten einen unüberbrückbaren Bruch mit der Vergangenheit – nichts kann danach mehr so sein, wie davor. Dieser Bruch stellt jedoch keine völlige Trennung dar. Was davor geschah, verdient Beachtung, sollte jedoch hinterfragt werden. Traditionen sollten dekonstruiert aber nicht verworfen werden, damit neue Orte entstehen können. Ihre Stärke liegt in der konstruktiven Neukombination von Artefakten, die dabei neuen Wert erhalten, zur Tragstruktur beitragen und – im Geiste einer Benjaminischen Archäologie – mehrdeutig genug werden, um Projektionen von Erinnerungen zuzulassen.18
Diese Haltung weicht deutlich von den speziellen Hierarchien von Erinnerung ab, die im städtischen Gefüge des wiedervereinigten Berlins erkennbar sind. Seit den 1990er Jahren war die Stadtplanung in der Hauptstadt geprägt durch die Debatte zwischen Befürwortern des traditionellen städtischen Blocks, die die Wiederherstellung der dichten, 18 m hohen Bebauungsstruktur der Gründerzeit favorisieren, und Verfechtern zeitgemäßerer architektonischer Ausdrucksformen und urbaner Räume. Bis auf wenige bemerkenswerte Ausnahmen hat sich die historistische Sichtweise durchgesetzt.19 Karen Till fasst die Motive dieser Haltung zusammen:
Sowohl Berliner Stadtplaner als auch Marketing-Experten bedienen sich historischer Bilder, um die neue Stadt zu entwerfen und darzustellen [auch wenn] sie sich in ihrem Verständnis des Begriffes „neu“ als Beschreibung der jüngsten Vergangenheit deutlich voneinander unterscheiden. Die Planer [. . .] sehen ihre Aufgabe darin, Berlins Status vor 1933 als klassische europäische Weltstadt wiederherzustellen, indem sie eine neo-traditionelle Position in Bezug auf urbane Dichte und gegenwärtige soziale und räumliche Bezüge vertreten. Zusammen mit Marketing- Fachleuten und der städtischen Elite werben sie für das nostalgische Konzept des „Kiezes“: Kompakte städtische Quartiere geprägt von europäischer Vitalität und unverwechselbarer Berliner Architektur, Dichte und Straßenraumgestaltung. Im Gegensatz zu den Stadtplanern feiern die „Vermarkter“ das Neue hingegen als den Vorboten einer besseren Zukunft. Sie präsentieren das Neue Berlin als weltbürgerliche, offene und junge Stadt und verwenden damit Begriffe, die auf das Berlin der Weimarer Republik in den 1920er Jahren anspielen.[. . .].FN20
Wie Till andeutet, ist ein Großteil der neuen Bauprojekte in der Stadt charakterisiert durch einen sonderbaren architektonischen Neo-Konservativismus, bei dessen Vermarktung jedoch auf ein Vokabular zurückgegriffen wird, das Neuartigkeit suggeriert. Die urbane Struktur des ausgehenden 19.Jahrhunderts, gepaart mit einem nüchternen Klassizismus, der sich aus der Architektur der 1920er und 1930er Jahre ableitet, bildet die scheinbar bevorzugte Ausdrucksweise. Die Befürworter eines solchen architektonischen und planerischen Ausdrucks haben damit ein Schema gefunden, das von außen betrachtet ähnlich weltabgewandt anmutet wie das Konzept der Holocaust-Gedenkstätten: Es beruht jedoch auf ganz anderen ethischen und politischen Grundlagen. Flächendeckend kommt es sowohl auf unbebauten Grundstücken als auch an bereits bebauten Standorten zur Anwendung, wo scheinbar modernere, zumeist zur Zeit der DDR entstandene Gebäude spurlos beseitigt und von scheinbar älteren Bauwerken ersetzt werden. Hierin zeigt sich weniger das Bekenntnis eines Bruches, als vielmehr das Aufzwingen einer selektiven Kontinuität. Aus Sicht der Stadtplaner müssen bestimmte Traditionen akzeptiert, andere jedoch abgelehnt werden, als hätten sie nie existiert. Dies ist selektives Erinnern im architektonischen Sinne. Der sedimentäre Archäologiebegriff, der der Kapelle der Versöhnung zu Grunde liegt, bietet hier eine Alternative. Er beruht weder auf der Ablehnung von Tradition noch bedient er sich der gefälligen Lösung der historistischen Rekonstruktion und ermöglicht damit die durchdachte Wiederaufnahme alter Traditionen in einer neuen Zeit.
Stampflehm ist ein nachhaltiger Baustoff. Er besteht aus wieder verwerteten Materialien, deren Hauptbestandteile aus natürlichen Vorkommen stammen, und ist daher energieeffizient in der Herstellung. Die Stampflehmwand der Kapelle und der sedimentäre Ansatz in Bezug auf Erinnerung, den sie verkörpert, können jedoch auch intellektuell als nachhaltig bezeichnet werden. Erinnerungen an Vergangenes und Möglichkeiten der Gegenwart sind hier zu einem vielschichtigen Verbund von Neu und Alt verdichtet, dessen massive aber empfindliche Struktur sich auf das Zusammenspiel dieser beiden Dimensionen gründet.
Anmerkungen und Literatur
1.) Zumindest im Europäischen Kulturraum des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts: Andrew Webber: Berlin in the Twentieth Century – A Cultural Topography. Cambridge: Cambridge University Press, 2008.
2.) Der Abriss des Palastes der Republik wurde im Jahr 2008 abgeschlossen. Drei der Fassaden des geplanten Nachfolgebaus stellen originalgetreue Kopien des Preußischen Stadtschlosses dar, das vormals an diesem Ort gestanden hatte. Diese historische Nachbildung war in der Wettbewerbsausschreibung vorgeschrieben. Die Teilnehmer und Preisträger des Wettbewerbs sind aufgeführt in: Chris Foges: „Berlin”. In: Architecture Today, Heft 196, Jg. 2009, S.12–17.
3.) Andres Lepik und Anne Schmedding: Architektur in Berlin – Das XX. Jahrhundert. Köln: Dumont, 2005, S. 84–85.
4.) Das Vorhaben des Autors, das Gebäude zu „lesen“, beinhaltet keineswegs die Behauptung, Architektur sei Text. Gebaute Form verfügt über eine starke materielle Präsenz, was eine solche Analogie wenig sinnvoll erscheinen lässt. Vielmehr wird hier die These aufgestellt, dass sowohl Architekten als Autoren von Gebäuden, als auch Architekturkritiker in Ehrfurcht vor der Autorenschaft nur selten eine Quelle besonders objektiver Beschreibungen von Architektur darstellen. Alle Denkprozesse bezüglich des Entwurfes, der Auftragsvergabe, Konstruktion und Nutzung eines Gebäudes sind in dessen Architektur eingeschrieben. Architektur offenbart die Gesinnung von beteiligten Individuen sowie ihre Beziehungen zueinander und ihr Engagement in den Kulturen, in denen sie lebten und wirkten. In diesem Sinne sind Gebäude und ihre Details kulturelle Artefakte, die hinsichtlich der Einblicke, die sie verkörpern, „gelesen“ werden können. Diese Sichtweise räumt ein, dass der Architekt nur einer von vielen Individuen ist, die an der Entstehung gebauter Form beteiligt sind und dass Gebäude niemals als „fertig“ betrachtet werden können, besonders nicht schon am Tag ihrer Einweihung. Eine weitere, vom Autor dieses Artikels herausgegebene Publikation ist der eingehenden Betrachtung dieses Aspektes gewidmet: Adam Sharr, (Hrsg.): Reading Architecture and Culture – Researching Buildings, Spaces and Documents. London: Routledge, 2012.
5.) Ulrike Braun: Versöhnungskirche – Kapelle der Versöhnung in Berlin. Berlin: Evangelische
Versöhnungsgemeinde, 2007, S.27.
6.) http://www.kapelle-versoehnung.de/bin/englisch/history/history.php
[Stand 29.07.08].
7.) Braun (wie Anm. 5), S.32.
8.) Kirchen – als relativ sichere Orte des friedlichen Widerspruchs und der freien Meinungsäußerung – waren bekanntermaßen von zentraler Bedeutung für die Proteste der DDR-Bevölkerung, die 1989 zum Fall der Berliner Mauer führten. Die Leipziger Nikolaikirche bildete ein besonderes Zentrum der Protestbewegung. Aufgrund dessen sind mit Kirche auch im wiedervereinigten Deutschland bestimmte Assoziationen verbunden.
9.) Der Duden definiert Achse als eine gedachte Mittellinie, um die sich ein Körper dreht; eine imaginäre Linie, um die eine regelmäßige geometrische Figur symmetrisch angeordnet ist. Die hier besprochenen Räume sind zwar, streng genommen, nicht symmetrisch, die betreffenden Linien deuten jedoch die Existenz einer Mittellinie an, die den asymmetrischen Raum auf so ausgewogene Weise teilt, dass nur der Begriff Achse ihrer Beschreibung gerecht wird.
10.) Braun (wie Anm. 5), S.33.
11.) Es erscheint zunächst befremdlich, dass solch heideggersche Themen in der Architektur dieser Gedenkstätten so ausgeprägt zu Tage treten. Aufgrund seines notorischen nationalsozialistischen Engagements wird Heideggers Denken gemeinhin als gegensätzlich zu dem der Schlüsselfiguren der Erinnerungstheorie betrachtet, darunter Walter Benjamin, Maurice Halbwachs und Max Horkheimer. Allerdings studierten sowohl Hannah Arendt als auch Karl Jaspers, wichtige frühe Stimmen der Erinnerungsdebatten der Nachkriegszeit, bei Heidegger und arbeiteten mit ihm zusammen. Die Architekten Daniel Libeskind and Peter Eisenmann wiederum unterhielten beide Beziehungen zur Architekturfakultät in Cambridge, wo Dalibor Vesely den Einflussbereich der Phänomenologie im allgemeinen und der heideggerschen Phänomenologie im speziellen auf den Architekturdiskurs ausdehnte. Veselys erst im Jahr 2006 erschienenes Buch fasst die phänomenologische Haltung zusammen, die dort über viele Jahre die Lehre prägte: Architecture in the Age of Divided Representation – The Question of Creativity in the Shadow of Production. Cambridge, Mass.: The MIT Press, 2006.
12.) Andreas Huyssen gibt einen Überblick über die Parameter dieser Debatte: „Die Kritik an der Geschichtsschreibung als Instrument von Herrschaft und Ideologie, die durch sozialistische Historiker des späten 19. Jahrhunderts wie z. B. Walter Mehring in Deutschland so vehement artikuliert und später auch von Walter Benjamin in seiner radikalen, aber übertriebenen, politischen Kritik jeglichen Historismus formuliert wurde; die post-nietzscheanischen Angriffe auf Linearität, Kausalität, Ursprungsmythen und Telos, die das Werk Foucaults, Lyotards und Derridas prägen; die postkoloniale Kritik an der abendländischen Historik als grundsätzlichem Bestandteil einer imperialistischen und rassistischen westlichen Moderne – all diese Argumente sind zu gut bekannt, als dass sie hier einer weiteren detaillierten Ausführung bedürfen. Das Attackieren der Verknüpfung von Geschichte und Moderne stellt in bestimmten intellektuellen Kreisen eine so etablierte Haltung dar, dass es angebracht scheint, das in Bedrängnis geratene Unterfangen der Geschichtsschreibung zu verteidigen, welches nach Ansicht des Verfassers eine wichtige Komponente des Erinnerungsdiskurses selbst darstellt.“ Andreas Huyssen: Present Pasts – Urban Palimpsests and the Politics of Memory. Stanford: Stanford University Press, 2003, S.5. Den Kontext dieser Ideen thematisiert auch Anson Rabinbach: In the Shadow of Catastrophe – German Intellectuals between Apocalypse and Environment. Berkeley: University of California Press, 1997, S.6.
13.) Martin Jay: „The Apocalyptic Imagination and the Ability to Mourn“. In: Force Fields: Between Intellectual History and Cultural Critique. London: Routledge, 2003; Saul Friedländer, Gerald Holton, Leo Marx and Eugene Skolnikoff, (Hrsg.): Visions of Apocalypse – End or Rebirth. New York: Holmes and Meier, 1985.
14.) Die Idee, ein Gebäude als Ansammlung der Spuren einer langen Vergangenheit zu betrachten, erinnert an einen Gedanken Anson Rabinbachs: „[. . .] seit dem 2. Weltkrieg stehen Historiker einer ‚Ereignishaftigkeit‘ der Vergangenheit wesentlich skeptischer gegenüber als ihre Vorgänger, und ziehen stattdessen nun eine Konzentration auf langfristige soziale und kulturelle Veränderungen der Beobachtung oberflächlicher und vorübergehender politischer Ereignisse vor.“; Rabinbach (wie Anm.12), S.19.
15.) Walter Benjamin: Berliner Chronik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1970, S.52–53; ebenfalls erörtert in: Karen Till: The New Berlin – Memory, Politics, Place. Minneapolis: University of Minnesota Press, 2005.
16.) Zygmunt Bauman: Modernity and Ambivalence. Ithaca: Cornell University Press, 1991, S.233.
17.) Huyssen (wie Anm.12), S.8.
18.) Die Wand scheint hier einer Provokation hinsichtlich des Gebrauchs von Erinnerung zu entsprechen, die Andreas Hyssen am Ende der Einleitung zu Present Pasts formuliert: „Das Paradox ist, dass Erinnerungsdiskurse selbst an den Prozessen der Entzeitlichung beteiligt sind, die eine Kultur des Konsums und des geplanten Wertverlusts prägen. Erinnerung als Repräsentation, ein Wieder-präsent-machen, steht immer in der Gefahr, die konstitutive Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu zerstören. Dies gilt besonders dann, wenn die Vorstellungen von der Vergangenheit in die zeitlose Gegenwart des allgegenwärtigen virtuellen Raumes der Konsumkultur gesogen werden.“; Huyssen (wie Anm.12), S.10.
19.) Im Gegensatz zu dieser Herangehensweise, die sich im Erscheinungsbild „normaler“ Berliner Architektur manifestiert, stehen die Methoden und Konzepte bestimmter
„besonderer“ Projekte; insbesondere die Ideologie der Transparenz, die ihren Ausdruck in gewissen Regierungsbauten und speziell im Umbau des Reichstages findet: Deborah Ascher Barnstone: The Transparent State – Architecture and Politics in Post-War Germany. London: Routledge, 2005.
20.) Till (wie Anm.15), S.44–45.