Kamera: © Rainer Just, Berlin
Produktion: Just-in-time-Production

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 Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Damen und Herren,

Ein Roggenfeld wächst auf dem ehemaligen Todesstreifen der Berliner Mauer. Warum gerade hier?

Ich möchte Ihnen die Geschichte einer Idee erzählen. Sie beginnt mit einem Grabstein oder besser: einem Lebenszeichen, erdacht und gefertigt für eine Frau, die sich noch allerbester Gesundheit erfreut.

Im Rahmen des ökumenischen Kirchentages 2003 gab es auf dem Gelände der Kapelle der Versöhnung ein Kunstprojekt. 11 Bildhauer erarbeiteten für verschiedene Menschen aus der Gemeinde Objekte, die zu Lebzeiten in ihren Wohnungen oder Gärten aufgestellt werden sollten. Nach ihrem Tode aber sollten diese Lebenszeichen auf den Friedhof umziehen, um dort künftig als Grabzeichen zu wirken.

Ich selbst hatte es zu tun mit einer Frau, deren Lebensmotto dem „Westöstliche Divan“ von Goethe entlehnt ist: „Solange Du dies nicht weißt, dieses `Stirb und Werde`, bist Du nur ein trüber Gast auf dieser dunklen Erde“.

 

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Die äußere Form zu diesem Spruch war die des Mühlsteines, denn das Korn, was eigentlich eine Pflanze hätte werden wollen, stirbt und wird zermahlen. Es wird zu Mehl und aus dem backen wir Brot und davon ernähren wir uns.

Leider oder sollte ich sagen: zum Glück, wohnt die Frau, für welche dieser spezielle Mühlstein erdacht worden war, in einer Wohnung im 3. Stock ohne Aufzug. Der Stein wiegt 400 Kg und wir haben bislang Abstand davon genommen, ihn im Wohnzimmer aufzustellen. Er steht seit dem Kirchentag deshalb noch am Ort seiner eigenen Herstellung.

Seit 2003 also lagert dieser Mühlstein im ehemaligen Todesstreifen der Berliner Mauer und trat so in einen Dialog mit seiner Umgebung. Und die ist sehr besonders und geschichtsträchtig.

Weit vor den Toren Berlins gelegen, waren vor 200 Jahren hier noch Äcker. Die Straßennamen im Umfeld geben darüber Auskunft: Ackerstraße, Gartenstraße und Feldstraße. Seit 1844 gab es hier einen Friedhof.

Ja, und dann war hier die Mauer, die Berliner Mauer, welche die Welt in zwei Teile schnitt.

Stellen Sie sich einmal das Gespräch des Mühlsteines mit seiner Umgebung vor, dieser Umgebung, die nichts vergessen hat, ihr gemeinsames Unverständnis darüber, dass hier der Versuch unternommen worden war, die Zeit anzuhalten und damit den Wandel, dem alles auf der Welt unterworfen ist, für 28 Jahre festzufrieren.

Das Ergebnis dieses Dialoges, dem ich ein wenig gelauscht habe, ist das Roggenfeld, was heute wieder ausgesät werden soll.

Der Anfang war improvisiert: Wir liehen uns vom Baumarkt kleinmotorige Bodenbearbeitungsmaschinen. In der Verwandtschaft fand sich ein Landwirt, der es noch gelernt hatte, das Korn mit der Hand auszusäen. Kurz vor der Ernte fuhr ein Professor der landwirtschaftlichen Fakultät der Humboldt Universität auf dem Weg zur Arbeit mit der Straßenbahn an dem Feld vorbei und wunderte sich nicht nur, sondern bot auch seine Hilfe bei der Ernte an.

Über die Jahre hinweg hat das Feld eine Eigendynamik bekommen. Kunst bekommt in dieser Umgebung eine zusätzliche Bedeutung. So erging es der fünf Tonnen schweren Schrippe aus Sandstein.

Auftraggeber war die „Schrippenkirche“, eine Institution aus dem Berliner Wedding, gegründet vor 125 Jahren als „Verein zum Dienste an Arbeitslosen“.

Am Rande des Roggenfeldes wurde sie bearbeitet. 50 Freiwillige zogen die schwere Schrippe an langen Seilen auf Rundhölzern über den alten Postenweg ((Kolonnenweg)) und über die Bernauer Straße zu ihrem jetzigen Aufstellungsort, direkt vor der „Schrippenkirche“, unweit von hier.

Sehr geehrte Damen und Herren, für mich kann das Roggenfeld unter unterschiedlichen Gesichtspunkten betrachtet werden.

Das Roggenfeld aus kirchlicher Sicht

Das Bild des wachsenden, des reifenden und des wogenden Korns, das Bild der "Kapelle im Kornfeld", weckt Assoziationen zu vielen biblischen Geschichten, etwa der vom "Korn, dass nicht lebendig wird, wenn es nicht stirbt".

Das Bild eines wogenden Kornfeldes schafft Bezüge, die im Umfeld der Großstadt stärker werden, wo dem Menschen oft jeder Bezug zum Rhythmus der Jahreszeiten und zum Lauf der Jahresfeste verloren gegangen ist. Der Mensch erlebt den Prozess von Säen, Wachsen und Vergehen innerhalb eines Jahres und begleitet ihn in Ritualen. Er feiert ein Erntedankfest.

Das Roggenfeld aus bildhauerischer Sicht

Mit dem Wachstum des Roggens wächst die dritte Dimension innerhalb der ehemaligen Grenzanlage. Der Postenweg ((Kolonnenweg)) wird plastischer und deutlicher. Das ganze Feld ist in Bewegung, wenn der Wind darüber streicht und es wie ein Meer ausschauen lässt. Die Farben kehren zurück mit den unterschiedlichen Grün- und Gelbtönen des Getreides oder der roten Mohnblumen.

Das Roggenfeld aus landwirtschaftlicher Sicht

Seit dem 12.Jahrhundert war Roggen die Hauptbrotfrucht besonders der Landbevölkerung in den ostelbischen Gebieten.

Roggen hat unter den Getreidearten die größte Bestockungsfähigkeit. Das bedeutet, aus einem Saatkorn können sich viele Halme und Ähren entwickeln (unter günstigsten Bedingungen bis zu 25 Halme aus einem Saatkorn mit jeweils bis zu 50 Einzelkörnern, was einem Ertragszuwachs um das 1250- Fache entspräche). Manch ein Spekulant wäre wohl froh, wenn seine Aktien eine ähnliche Wertsteigerung erführen.

Das Roggenfeld im Kontext des ehemaligen Todesstreifens

Bis hin zum Fall der Mauer wurde der Bewuchs innerhalb des Todesstreifens durch Wuchsstoffherbizide unterdrückt. Der Mauerstreifen wirkte dadurch dem Lebenszyklus entrissen.

Das Wissen um die Zeit und den ewigen Wandel kehrt mit den Roggen an diesen Ort zurück. Er wird gesät, er wächst und wird geerntet. Innerhalb eines kurzen Zeitrahmens nach der Ernte Anfang August bis hin zur Aussaat Mitte September sieht das Land wieder so aus, als würde die Grenze noch stehen: gepflügt, geeggt und scheinbar ohne Bewuchs.

Aber schon der ersten Regen bringt das Korn in der Erde zum Keimen und der Ort wird grün. Die Hoffnung ist zurückgekehrt.

Das Kornfeld im Kontext von Trauer und Gedenkkultur

Wie schon erwähnt, befand sich hier ein Friedhof. An diesem Ort wurde getrauert und getröstet. Hier schloss sich ein Kreis.

Heutzutage befasst sich der Mensch nur sehr ungern mit seiner eigenen Seinsflüchtigkeit. Gestorben wird meist fernab von Familie und Gesellschaft. Das war nicht immer so.

Zu den antiken Exerzitien gehörte es, sich auch den Tod vorzustellen, den Moment des Sterbens geistig vorwegzunehmen, um in der Situation, wenn sie da ist, nicht vollkommen unvorbereitet zu sein.

Immanuel Kant denkt ähnlich, wenn er in seiner„Kritik der praktischen Vernunft“ bemerkt:

„Wer sich der eigenen Todesangst im Denken stellt - der kann wieder vorbehaltlos gut sein, er wird sich für andere Menschen einsetzen, ohne die Angst, etwas zu verlieren“.

Wenn wir uns gegen Veränderung stemmen und krampfhaft an dem festhalten, was wir haben, an dem Auto, an dem Haus, an den vielen Dingen, die wir im Leben anhäufeln, an politischen Verhältnissen und festgefahrenen Denkweisen, so werden wir alles nur viel schneller verlieren und vor allem: schlechter Leben. Auch berauben wir uns selber der vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten des Wandels.

In unserem Leben müssen wir lernen, Abschied zu nehmen. Wir nehmen Abschied von unserer Kindheit, von unserer Jugend, von unseren Eltern. Abschied dann auch irgendwann von unserem Leben.

Wenn man den Tod nicht als absolutes Ende begreift - und die wenigsten tun das, so ist er eine Verwandlung, die wir mit unseren Sinnen nicht zu fassen vermögen. Um in der Nähe des Todes weiterleben zu können, brauchen wir manchmal haptische Krücken, etwas Dingliches, was wir mit unseren Händen begreifen können. Ein Grabstein ist so etwas oder auch:das Roggenfeld.

Es so etwas wie eine Hoffnung, die in uns keimt oder eine Ahnung, dass etwas bleibt, dass der Tod nicht zerstören kann.

Meine Damen und Herren, die Bedeutung des Roggenfeldes an diesem Ort erschließt sich aus dem geschichtlichen Kontext der Umgebung, in die es eingebettet ist. Die Mauer konnte keinen dauerhaften Bestand haben, weil sie die Zeit anhalten wollte.

Eine Gedenkstätte wird keinen Bestand haben, wenn sie einen Gedenkort für die Ewigkeit einfrieren will und sich dem wandelnden Erinnerungsbedürfnis unser Kinder und Kindeskinder verschließt.

Das alles macht das Roggenfeld nicht. Es ist flexibel und könnte schon in diesem Herbst verschwinden, einfach, weil es heute nicht ausgesät werden würde. Aber es könnte auch vergrößert werden ohne tiefe Fundamente und Vorarbeiten.

Es trägt den Wandel in sich und erinnert uns daran, dass auch wir endlich sind. Es erzählt uns eine Geschichte von Vergänglichkeit und Ewigkeit gleichzeitig. Es bringt Neues hervor ohne das Alte zu verleugnen. Es ist offen für die Zukunft und tief verwurzelt in der Geschichte.

Stirb und werde!

Autor: Michael Spengler

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